"Es gibt vielleicht keine Tage unserer Kindheit, die wir so voll erlebt haben wie jene, die wir glaubten verstreichen zu lassen, ohne sie zu erleben, jene nämlich, die wir mit einem Lieblingsbuch verbracht haben. Alles, was sie, wie es schien, für die andern erfüllte und was wir wie eine vulgäre Unterbrechung eines göttlichen Vergnügens beiseiteschoben; das Spiel, zu dem uns ein Freund bei der interessantesten Stelle abholen wollte; die störende Biene oder der lästige Sonnenstrahl, die uns zwangen, den Blick von der Seite zu heben oder den Platz zu wechseln; die für die Nachmittagsmahlzeit mitgegebenen Vorräte, die wir unberührt neben uns auf der Bank liegen ließen, während über unserm Haupt die Sonne am blauen Himmel unaufhaltsam schwächer wurde; das Abendessen, zu dem wir zurück ins Haus mussten, und während dessen wir nur daran dachten, sogleich danach in unser Zimmer hinaufzugehen, um das unterbrochene Kapitel zu beenden, all das, worin unser Lesen uns nur Belästigung hätte sehen lassen müssen, grub im Gegenteil eine so sanfte Erinnerung in uns ein (die nach unserem heutigen Urteil um so vieles kostbarer ist als das, was wir damals mit Hingabe lasen), dass, wenn wir heute manchmal in diesen Büchern von einst blättern, sie nur noch wie die einzigen aufbewahrten Kalender der entflohenen Tage sind, und es mit der Hoffnung geschieht, auf ihren Seiten die nicht mehr existierenden Wohnstätten und Teiche sich wiederspiegeln zu sehen."
(Marcel Proust - Tage des Lesens)
"Wenn ich früher den Wunsch gehabt hatte, Lehrerin zu werden, so deshalb, weil ich davon träumte, Ursache und Zweck in einem zu sein; jetzt meinte ich, dass die Literatur mir erlauben würde, mir diesen Wunsch zu erfüllen. Sie würde mir eine Unsterblichkeit sichern, die mir ein Ausgleich für die verlorene ewige Seligkeit wäre; es gab keinen Gott mehr, der mich liebte, aber ich würde in Millionen von Herzen wie eine Flamme weiterbrennen. Indem ich ein aus meinem eigenen Erleben genährtes Werk verfaßte, würde ich mich selber wiedererschaffen und mein Dasein rechtfertigen. Zugleich würde ich der Menschheit dienen: Mit welchem schöneren Geschenk als Büchern konnte man sie bedenken? Ich interessierte mich zugleich für mich und die anderen; ich fand mich mit einer ´Fleischwerdung´ ab, aber ich wollte dennoch nicht auf Universales Sein verzichten; dieser Plan kam alle, entgegen: er schmeichelte alle Bestrebungen, die sich in mir im Laufe dieser fünfzehn Jahre ausgebildet hatten."
(Simone de Beauvoir - Memoiren einer Tochter aus gutem Hause)
"Und wenn er dann unter den Geräuschen des Morgens vollkommen aufgewacht war, landete er sofort inmitten eines Glücksgefühls, das in seinem Herzen sog; es war gut, am Leben zu sein, und in einem Nebelschleier schimmerte ein köstliches Ereignis, das jeden Moment eintreten musste. Doch sobald er versuchte, sich Sina vorzustellen, sah er nichts als eine schwache Skizze, der ihre Stimme hinter der Wand kein Leben einzuhauchen vermochte. Ein oder zwei Stunden später traf er sie bei Tisch, und alles begann von neuem, und er erkannte abermals, dass es ohne sie keinen Morgennebel des Glücks gäbe."
(Vladimir Nabokov - Die Gabe)
„Indem ich mich besinne, in welcher Eigenschaft ich mich dem etwaigen Leser dieser Notizen füglichst vorstelle, fällt mir ein, daß ich mich, dem Inhalt meines Schreibens gemäß, am besten als Bibliophile einführe. Wirklich ist dies wohl auch meine eigentlichste Eigenschaft. Wenigstens habe ich keinen wertvolleren Besitz und keinen, der mich mehr freut und auf den ich stolzer bin, als meine Bibliothek. Auch finde ich mich im Vielerlei der Bücherwelt leichter zurecht, als im Wirrwarr des Lebens und bin im Finden und Festhalten schöner alter Bücher besonnener und glücklicher gewesen als in meinen Versuchen, andere Menschen Schicksale freundlich mit dem meinigen zu verknüpfen. […] Die Teilnahme und die Freude, die ich an meinen Büchern habe, gilt nicht nur ihrem Inhalt, ihrer Ausstattung und ihrer Seltenheit, sondern es ist mir ein besonderes Bedürfnis und Vergnügen, womöglich auch die Geschichte dieser Bücher zu kennen. Ich meine damit nicht die Geschichte ihrer Entstehung und Verbreitung, sondern die Privatgeschichte des einzelnen, zur Zeit mir gehörigen Exemplares.
Wenn ich in einem älteren Dichter blättere, in einer früheren Ausgabe von Claudius, von Jean Paul, von Tieck und Hoffmann, und ich fühle das heimelig altmodische, schlichte Druckpapier zwischen Daumen und Zeigefinger, so kann ich mich nie enthalten, der dahingehenden Geschlechter zu denken, welchen diese altgewordenen Papierblätter einst Gegenwart, Leben, Rührung und Neuheit bedeutet haben. Wenn man doch wissen könnte, in wie vielen vor Begeisterung und Lesefieber zitternden Händen so ein altes Exemplar des Titan oder des Werther gelegen hat, wie oft es in altfränkischen, ampelbeglänzten Zimmern nächtelang eine junge Seele zu Jauchzen und zu Tränen entzündet hat! Wie sonderbar teuer sind uns schon die Bücher, die sich vom Urahn her durch die Familie auf uns herab geerbt haben, die wir schon als Kinde im alten Spinde stehen sahen und die wir in den aufbewahrten Briefwechseln und Tagebüchern unserer Großeltern erwähnt finden! Und auf manchen aus fremder Hand erworbenen Bücher finden wir fremd klingende Namen ehemaliger Besitzer, Dedikationen aus dem vorvorigen Jahrhundert, und denken uns, sooft wir einen Federstrich, ein eingebogenes Ohr, eine Randglosse oder ein altes Lesezeichen finden, diese seit vielen Jahrzehnten gestorbenen Besitzer dazu, ehrwürdige Männer und Frauen mit ernsten, familiären Gesichtern und in längst veralteten kuriosen Röcken, Manschetten und Krausen, Leute die das Erscheinen des Werther, Götz, Wilhelm Meister und die Erstaufführungen Beethovenscher Werke erlebt haben.
Unter den alten Lieblingsbänden in meinen Bücherschränken sind viele, deren mutmaßliche Geschichte für mich ein reiches Feld köstlich neugieriger Forschungen und Vermutungen ist. Dabei bin ich im Phantasieren und Erfinden nicht allzu sparsam, teils aus Vergnügungslust, teils in der Überzeugung, das alles Erfassenwollen der wahren, inneren Geschichte vergangener Zeiten ein Werk der Phantasie und nicht des wissenschaftlichen Erkennens ist. Von den in prachtvoller Antiqua gedruckten aldinischen Oktavbänden der italienischen Renaissance bis zu den Erstausgaben von Mörike, Eichendorff und der Bettina habe ich fast für jeden Band meiner Sammlung einen imaginären ersten Besitzer. Kriege, Feste, Intrigen, Diebstahl, Tod, Mord spielen gelegentlich mit, ein Stück wirklicher Welthistorie und erdichteter Familiengeschichten hängt an den antiquarischen Schwarten, deren Einbände mir, selbst wo sie etwas schadhaft sind, von keinem modernen Buchbinder berührt werden dürfen.
Außerdem aber besitze ich einige Bücher, deren Vergangenheit mir teils ganz, teils wenigstens jahrzehnteweis bekannt ist. Ich weiß die Namen ihrer ehemaligen Leser und den des Buchbinders, der sie seinerzeit gebunden hat; ich weiß von darinstehenden Glossen und Notizen Hand und Jahr, woraus sie stammen. Ich weiß von Städten, Häusern, Zimmern und Schränken, in denen sie standen; ich weiß von Tränen, die auf sie geflossen sind und deren Ursache ich kenne.
Diese paar Bücher schätze ich über alle anderen. Der Umgang mit ihnen hat mir manche melancholische Stunde heller gemacht; denn oft werde ich einsamer Mann inmitten der schweigsamen Gesellschaft meiner Scharteken von Trauer überfallen, wenn ich sehe, wie schnell alles das, was einmal modern und neu und wichtig war, dem kühlen, mitleidig lächelnden Interesseeiner anderen Zeit oder der Vergessenheit anheimfällt und wie schnell das Gedächtnis des einzelnen verlischt.
Dann reden mir diese paar Bände tröstend vom Geheimnis der Liebe, vom Bleibenden im Wechsel der Zeiten. Sie geben mir, wenn ich mir einsam erscheine, zu Nachbarn die aufsteigenden Bildnisse ihrer gestorbenen Freunde, deren Kette ich mich willig und dankbar anschließe. Denn in solchen Zeiten ist das Gefühl, als untergeordnetes und geringes Glied einer festen Gemeinschaft und Folge anzugehören immer noch besser und tröstlicher als das grausame und sinnlose Alleinsein im Unendlichen. Von diesen lieben Büchern habe ich nun eines ausgewählt, dessen Geschichte ich erzählen will, damit es dadurch vielleicht einem späteren Besitzer teurer werde. […]“
(Hermann Hesse - Gesammelte Erzählungen: Der Novalis)
Dieser Beitrag wurde bereits 2 mal editiert, zuletzt von »Sagittarius« (16. Januar 2009, 12:17)